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Zum internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust

Den heutigen Tag, den internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust, nehmen wir zum Anlass, um erneut zu erinnern und zu gedenken:
Der 27. Januar wurde nicht zufällig von den Vereinten Nationen zum Gedenktag gewählt. Er markiert das Datum der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die rote Armee am 27. Januar 1945. Auschwitz wird häufig als Synonym für das KZ-Lagersystem verwendet, das aus über 1.000 Konzentrationslagern und -außenstellen bestand. (Fußnote: Auschwitz ist der deutsche Name für einen ehemaligen polnischen Grenzort zwischen Polen und Deutschland, Oświęcim. Auschwitz war der Standort dreier Konzentrationslager, Auschwitz I (Stammlager), Auschwitz II (Birkenau) und Auschwitz III (Monowitz).) Der Spruch “Dass Auschwitz sich nicht wiederhole” ist vielen ein Begriff, ebenso wie das viel beschworene “Nie wieder”. Wenn über Auschwitz gesprochen wird, wird immer auch darüber gesprochen, was alles in dem Wort mitschwingt. Der Begriff Auschwitz kann Bilder von der Selektion an der Rampe in Auschwitz-Birkenau hervorrufen, von gesprengten Gaskammern, von befreiten Kindern am Lagerzaun, von Schuh-, Koffer- und Brillenbergen oder auch von dem Lagertor des Stammlagers “Arbeit macht frei”. 
 
 
Warum ist dieses Datum heute noch von Bedeutung?
 
Die Befreiung des Konzentrationslagers (KZ) Auschwitz-Birkenau hatte für die Inhaftierten und die im Nationalsozialismus Verfolgten, welche in den Vernichtungslagern ermordet werden sollten, natürlich eine enorme Bedetung.
Heute kommt der Befreiung, im Kontext des nationalsozialistischen Verbrecherstaates, weiterhin eine hohe symbolische Bedeutung  zu. Denn nicht zuletzt durch die KZs in Auschwitz wurde die logische Konsequenz der faschistichen und menschenverachtetenden Ideologie der Nazis sichtbar: Über 13 Millionen Menschen wurden in systematischer Weise von Nazi-Deutschland verschleppt, versklavt und auf teilweise unvorstellbare Art und Weise misshandelt und umgebracht. Unter ihnen waren vor allem Jüd:innen, Sinti*zze und Rom*nja, sowjetische Kriegsgefangene, Pol*innen, Menschen mit Behinderung, Kommunist*innen, Homosexuelle und unzählige Andere. Viele der Menschen wurden in KZs deportiert und dort systematisch und geplant ermordet. Allein in Auschwitz wurden etwa 1,1 Millionen Menschen getötet. Millionen Menschen, deren einziges Vergehen es war, nicht dem gewünschten Bild eines sogenannten “gesunden Volkskörpers” zu entsprechen. Millionen Menschen, deren Leben als “lebensunwert” betrachtet wurde. 
 
 
Das Unbegreifliche bleibt unbegreiflich
 
Das Wissen um die Ausmaße und die Bedeutung dieser Verbrechen darf nicht vergessen werden. Und gleichzeitig führt uns Auschwitz, und damit die gesamte Shoah, an die Grenzen des Sag- und Denkbaren. Wir finden keine Worte dafür. Zumindest keine Worte, die es tatsächlich auf den Punkt bringen würden
“Auschwitz bis ins Letzte erfahren haben die Umgekommenen, die von dieser Erfahrung nicht mehr sprechen können. Diese Auschwitz-Erfahrung verschließt sich den Überlebenden. Die Davongekommenen, die Überlebenden der Vernichtung, erfuhren Auschwitz auch in einer unvorstellbaren Totalität, an der das Vorstellungsvermögen der Außenstehenden, zumal der Nachgeborerenen, fast genauso scheitern muß [sic!]. Und es ist die Erfahrung der Überlebenden in ihrem Überleben, daß [sic!] auch ihre Worte dem, der es nicht selbst erlitt, kaum etwas begreifbar machen können von dem, was sie überlebten.” (Matthias Heyl). Wir werden mit Auschwitz nicht fertig, wir können all das wofür Auschwitz steht nicht “bewältigen”. Wir müssen zugeben, dass uns all das überwältigt und immer weiter überwältigen wird.
Primo Levi, ein Auschwitzüberlebender, schreibt zu den ersten Berichten über die nationalsozialistische Vernichtungslager: “Sie ließen eine Massenvernichtung von einem derartigen Ausmaß, von einer so unvorstellbaren Grausamkeit, mit so verworrenen Motivationen deutlich werden, daß die Öffentlichkeit, gerade wegen ihrer Ungeheuerlichkeit, dazu neigte, sie nicht zu glauben.”
 
 
Doch was hat das mit uns zu tun?
 
All das hat mehr mit uns zu tun, als uns lieb ist. Denn die sogenannte “Stunde Null”, sprich der Zusammenbruch und die Vernichtung der NS-Ideologie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, hat nie stattgefunden. Schon früh nach dem Ende des Krieges wurden erste Stimmen laut, die Aufarbeitung der Naziverbrechen sowie die juristische Verfolgung von Täter*innen einzustellen. Man müsse schließlich in die Zukunft blicken. “Davon haben wir nichts gewusst!” war eine gängige Antwort auf die Frage, was die Menschen über die Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüd*innen im NS gewusst haben. Hier wird deutlich, dass nicht von “ich”, sondern vom kollektiven “wir” gesprochen wird. Das “davon” lässt durchblicken, dass ganz genau gewusst wird, wovon man nichts gewusst habe. Aber wovon will man nichts gewusst haben? Von der Ermordungen in den Vernichtungslagern, dem Massensterben in den Ghettos und Arbeitslagern, den öffentlich stattgefundenen Deportationen oder dem Gesamtausmaß der Verfolgung und Vernichtung? 
Obwohl geleugnet wird, davon nichts gewusst zu haben, wird selten geleugnet, nichts gehört oder geahnt zu haben. Wie könnte auch geleugnet werden nicht mitzubekommen, wie Teile der Bevölkerung verschleppt und ihr Hab und Gut an die übrig gebliebenen verscherbelt werden? 
 
Deutlich wird diese Haltung auch daran, dass die Bundesrepublik teilweise erst Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkrieges Opfer der NS-Verbrechen auch als solche anerkannte. Zu viele Überlebende starben nach dem Krieg ohne jede Form der Anerkennung des ihnen zugefügten Leids und zu viele Angehörige der Opfer wurden von der Bundesrepublik nicht ernst genommen. Die aktuell letzte Opfergruppe, die der sogenannten “Asozialen und Berufsverbrecher”, wurde vom Bundestag erst im Jahr 2019 anerkannt.
 
 
Hat Deutschland aus den Fehlern der Nazizeit nicht Lehren gezogen?
 
Die selben Menschen die Auschwitz ermöglichten, haben nach dem Krieg die Behörden und den Verwaltungsapparat organisiert. Ranghohen Kriegsverbrecher*innen und Nazigrößen ermöglichte dies phänomenale Karrieren in der Bundesrepublik. Der Aufbau von Verfassungsschutzbehörden (VS), Polizei und Bundeswehr durch Nazis in der Bundesrepublik ist bis heute nicht in vollem Umfang aufgearbeitet. Hieraus ergaben und ergeben sich weitreichende Folgen von der erwähnten Nichtanerkennung von Opfern des NS bis hin zur strukturellen Ausrichtung von Behörden bis in die heutige Zeit.
Dies zeigte sich beispielsweise 2019 als dem VVN-BdA, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, seitens der Finanzämter der Status der Gemeinnützigkeit aberkannt wurde. Mit der Folge, dass die Vereinigung sich nicht mehr hätte finanzieren können. Dies fußte auf der Einschätzung des bayerischen VS, der den VVN-BdA als linksradikal und verfassungsfeindlich einstufte. Diese Einschätzung wurde  von den Finanzämter unkritisch übernommen.
Erwähnt seien weiter die Verstrickungen des VS mit dem NSU-Komplex. So sind beispielsweise die Untersuchungsakten zum NSU Komplex von Behördenseite für 120 Jahre gesperrt worden – Kanzlerin Merkels Versprechen der vollständigen Aufklärung wird somit nicht eingelöst werden.
 
Doch nicht nur Behörden, ebenso die Gesellschaft der Bundesrepublik selbst weist Kontinuitäten aus der Nazizeit auf: Im Rahmen der sog. “Wehrmachtsausstellung” der 90er und frühen 2000er Jahre regte sich heftiger Protest aus der deutschen Zivilbevölkerung. Diese wollte den Mythos einer “sauberen Wehrmacht”, die sich nicht an deutschen Kriegsverbrechen beteiligte aufrechterhalten – obwohl diese These wissenschaftlich eindeutig widerlegt ist. Hier ist festzuahlten, dass die Mitläufer*innen und die Täter*innen im NS immer einen Handlungsspielraum hatten, den sie genutzt oder geleugnet haben. “Es zieht einen ebenso unüberbrückbaren allgegenwärtigen Stacheldraht zwischen dem Lagerinneren und -äußeren, zwischen Täter*innen und Mitläufer*innen auf der einen und den Opfern auf der anderen Seite. Es gilt festzuhalten: die Opfer hatten keien Wahl, wo sie sich wiederfanden, die Täter*innen und Mitläufer*innen wohl. Sie hätten die Seite wechseln können, immerhin.” (Matthias Heyl). Die Beteiligung der normalen Bevölkerung im Nationalsozialismus wurde lange Zeit nicht zur Kenntnis genommen. Ebensowenig wie die Tatsache, dass die Täter*innen gewöhnliche, durchschnittliche Deutsche ihrer Zeit waren,  Menschen, die dazu in der Lage waren ihr Handeln zu überdenken. 
 
 
Und nun?
 
Erinnern heißt kämpfen – dies darf für uns keine Floskel sein. In einer Gesellschaft, die das Erinnern an Naziverbrechen schon immer gerne hinter sich gelassen hätte, müssen wir konsequent auf die Kontinuitäten aus der Vergangenheit in unsere Gegenwart hinweisen, diese benennen und bekämpfen. Gleichsam wollen wir den Opfern gedenken und dazu beitragen, dass sie nicht in Vergessenheit geraten. Die Nazis haben nämlich versucht jegliche Erinnerung an die Ermordeten und Verfolgten auszulöschen. Dafür haben sie die Vernichtungslager der “Aktion Reinhard” abgerissen, das Gelände verändert, Hügel aufgeschoben und Bäume gepflanzt. Sie haben Akten vernichtet und sich ins Schweigen zurückgezogen. Trotzdem ist es ihnen nicht gelungen, ihre unfassbaren Taten zu vertuschen und all ihre Opfer zu Vergessenen zu machen. 
Wir wollen die Verbrechen im Nationalsozialismus nicht damit abhaken, dass wir uns einmal im Jahr öffentlich hinstellen und gedenken. Wir wollen auf die Geschichten und Leben der Betroffenen und Ermordeten verweisen, auf Kontinuitäten hinweisen und auch die Täter*innen und Mitläufer*innen in den Blick nehmen. 
 
 
“Wer gegen die Nazis kämpft, der kann sich auf den Staat überhaupt nicht verlassen!”
Esther Bejarano, Antifaschistin und Auschwitz-Überlebende.