Ein paar antifaschistische Gedanken zu Verschwörungserzählungen

[CN: Rassismus, Antisemitismus, Gewalt-Schilderungen v.a. in den Screenshots]

 
Seit dem Beginn der Corona-Pandemie im Jahr 2020 ist ein massiver Anstieg an Verschwörungserzählungen zu verzeichnen. Erscheinen einige dieser Mythen auf den ersten Blick vielleicht noch plausibel, so erweisen sich die meisten spätestens auf den zweiten Blick als komplett abstrus. Sie schwirren durch Social Media Kanäle, werden in Telegram-Gruppen geteilt und auf Demonstrationen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen weitererzählt. Über diese oft als “Spaziergänge” verharmlosten Aufmärsche wurde schon viel debattiert, geschrieben und veröffentlicht, so etwa die Broschüre “Mobilisierbare Deutsche” von den Genoss*innen aus Münster,  aber auch Texte von uns. In unserem letzten Text haben wir z.B. die Verstrickungen der Duisburger Proteste in die extreme Rechte Szene hervorgehoben. Nun wollen wir darauf eingehen, warum die verschwörungsgläubigen Gruppen und Milieus, die dort entstanden sind, auch dann gefährlich sind, wenn militante und organisierte Neonazis fernbleiben. 
 
Spoiler: wir sind der Meinung, dass die Verbreitung von verschwörungsidologischer Propaganda eingedämmt werden muss. Dies ist sowohl durch antifaschistische Aufklärung möglicher “Zielgruppen” und “Einsteiger*innen” ins verschwörungsgläubige Milieu möglich, als auch durch direkte Aktionen gegen Verbreitungskanäle und -akteur*innen. Wir können z.B. politischen Druck aufbauen, damit Verschwörungsideolog*innen nicht auf Podien, in Talkshows, auf Social Media oder in anderen Medien eine Plattform geboten bekommen, um ihre Inhalte zu verbreiten. 
 
Wie die verschwörungsideologische Szene sich selbst bekämpft: Die “2-Komponenten-Lösung” bedeutet übrigens Chlordioxid und Salzsäure. – Screenshot vom 24.01.2022
Zunächst beschreiben wir, welche Zwecke Verschwörungserzählungen erfüllen und wie sie funktionieren (können). Weiter wollen wir die mörderische Gefahr, die aus ihnen entsteht, aufzeigen und abschließend einen kurzen Blick auf die Duisburger Verschwörungsszene werfen.
 
 
Wer Verschwörungserzählungen verbreitet – und warum.
 
Bei der Frage nach dem Zweck von Verschörungserzählungen ist es wichtig, zwischen den Interessen derjenigen zu unterscheiden, die Verschwörungserzählungen in die Welt setzen und den Interessen derjenigen, die an sie glauben. 
Bei ersteren geht es primär darum, eigene Machtinteressen zu befördern – oder schlichtweg um Geld (nicht zufällig bettelt so ziemlich jeder verschwörungsideologische Kanal um “Spenden” oder “Schenkungen). Auch  Neonazis verbreiten gezielt Verschwörungserzählungen, etwa vom sogenannten “großen Austausch”, bzw. etwas ordinärer, von der “Umvolkung”.
 
Rassismus pur als Verschwörungserzählung – Screenshot vom 26.01.2022
 
Hier zeigt sich, dass faschistische Ideologie selbst zentral durch Verschwörungserzählungen funktioniert und verbreitet wird. Sie dienen der klaren “Feindbestimmung“, einem zentralen Merkmal von Faschismus sowie von Verschwörungserzählungen. Im erwähnten Verschwörungsmärchen der “Umvolkung” z.B. wird behauptet, dass Fluchtbewegungen durch (jüdische) Eliten gesteuert würden, um die weiße und christliche deutsche Bevölkerung durch “fremde” Bevölkerungsgruppen zu ersetzen und somit auszutauschen. So werden Menschen, die aufgrund von Not, Hunger, Krieg, politischer Verfolgung und/oder Klimakatastrophen ihre Heimat verlassen müssen, zu “Migrationswaffen stilisiert, die es mit allen Mitteln abzuwehren gilt. Selbst die Geburt nicht-weißer Kinder wird so zur Bedrohung erklärt und der “Volkstod” wird am Horizont erahnt.
 
Das ist alles Codierung!!1! – Screenshot vom 9.4. 2022
Diese rassistische, absurde und unrealistische Vorstellung forderte schon zahlreiche Opfer. So glaubten beispielsweise die Attentäter in Utøya, Christchurch und Halle an den “großen Austausch” und begründeten mitunter durch diesen ihre mörderischen und rassistischen Terrorattentate.
Hier zeigt sich eine weitere Funktion von Verschwörungserzählungen: die Mobilisierung der Anhänger*innen zu konkreten Taten. Die Verschwörungserzählung von einer “Umvolkung” oder dem „Großen Austausch“ ist leider immer wieder Ausgangspunkt für gewalttätige Übergriffe auf als “fremd” gelesene/markierte Menschen im Alltag. Ein anderes Beispiel: Die Verschwörungserzählung der “Lügenpresse” zieht immer wieder Angriffe auf Pressevertreter*innen und Journalist*innen nach sich. Diese mobilisierende Kraft und politische Macht, die sich dadurch entfalten kann, darf nicht unterschätzt werden. Manche Verschwörungserzählungen halten sich sogar jahrhundertelang, auch wenn sie keinen Funken Wahrheit enthalten. Ein weiteres Beispiel: Seit dem 11. Jahrundert hält sich die Behauptung, Jüd_innen würden für religiöse Rituale christliche Kinder ermorden. Das ist und war immer falsch. Trotzdem entzündeten sich an dem bloßen Verdacht immer wieder Pogrome. Hier zeigt sich: solche Beschuldigungen sind nicht nur gefährlich, sondern regelrecht mörderisch. Gewalt wird durch diese Verschwörungserzählungen nicht nur legitimiert, sondern geradezu eingefordert. (Beispiele aus der Duisburger Gruppe, bis hin zur Ankündigung terroristischer Aktionen, haben wir zum Beispiel als Thread auf Twitter veröffentlicht.)
 
Uralte antisemitische Lügenmärchen von Ritualmorden und Satanismus – Screenshot vom 7.3.2022
Heutzutage erlebt die oben angesprochene antisemitische Erzählung in codierter Form einen massiven Aufschwung in der “QAnon”-Bewegung. Dies geschieht unter dem Schlagwort “Adrenochrom”. Auch der brutale Angriffskrieg Russlands in der Ukraine wird über diese und ähnliche Verschwörungserzählungen legitimiert. Nicht nur hier zeigt sich, dass Antisemitismus in den meisten Verschwörungserzählungen mit angelegt ist. 
 
“Guten Abend in die Runde – habt ihr schon von den ausgeweideten Kindern gehört?” – Screenshot vom 7.3.2022
 
Neben der Feindbestimmung spielt auch die Zerstörung der bestehenden bürgerlichen Demokratie eine zentrale Rolle. Eine Demokratie ist auf bestimmte Dinge angewiesen: ein gewisses Maß an gemeinsamer Öffentlichkeit, einen minimalen gesellschaftlichen Konsens über Fakten und Wissen sowie auf die politische Teilhabe der Bürger*innen. Das Vertrauen in Politik, Wissenschaft und Medien, und damit in die Demokratie, wird durch Verschwörungserzählungen gezielt zerstört. Dies treibt eine Polarisierung der Gesellschaft voran. Und nicht nur die Debattenkultur wird zerstört, das Verhältnis zur “Wahrheit” selbst wird verändert: Als wahr wird angenommen, was zum Weltbild des eigenen Lagers passt. Als unwahr wird dagegen alles angenommen, was dem feindlich gegenüberstehendem Lager zugerechnet wird und ihm traut man gleichzeitig alles Böse zu.
 
“Ist doch als Fake enttarnt worden. Zuzutrauen wäre es ihm aber dennoch…” – Screenshot vom 3.3.2022
Wahrheit wird dabei kaum mehr mit Fakten gekoppelt, sondern vielmehr mit der eigenen Gruppenzugehörigkeit. In diesem Klima formt sich die Verschwörungsideologie weiter aus, welche wiederum die Polarisierung der Welt, das heißt ihre konkrete Einteilung in “Gut und Böse”, fordert und fördert. Die bösen vermeintlichen Verschwörer*innen des feindlichen Lagers (“Eliten”, Politiker*innen, “die Presse”, “die Pharmalobby” etc.) stehen dann dem guten “Volk” gegenüber. 
 
 
 
Wer an Verschwörungserzählungen glaubt – und warum
 
Kommen wir nun zum Zweck von Verschwörungserzählungen für diejenigen, die an sie glauben. Bei ihnen geht es insbesondere darum, Kontrolle zuerlangen, vor allem in Zeiten besonderer Unsicherheiten – beispielsweise dem Ausbruch einer Pandemie. Verschwörungserzählungen bieten ihnen einfache Wahrheiten in einer komplizierten Welt und geben dadurch Halt. Auch das selbsterhöhende Gefühl, zu einem Kreis der Eingeweihten zu gehören, spielt hier eine Rolle: Menschen, die sich sozial isoliert fühlen, glauben nachweislich eher an Verschwörungserzählungen. Sie finden im verschwörungsideologischen Denken einerseits eine Erklärungen für ihre Isolation und andererseits eine Gemeinschaft im dort voherrschenden simplen Freund-Feind-Schemata.
 
“Man fühlt sich so hilflos. Man möchte helfen . Aber wie ? Die Leute sind nicht mehr erreichbar ( wie Zombies )” – Screenshots vom 7.3.2022
 
Aber wie genau funktionieren Verschwörungserzählungen? Die meisten Verschwörungserzählungen folgen bei allem komplizierten Überbau einem sehr einfachen Plot: 
 
  1. Es gibt eine feindliche Gruppe (SIE), die UNS Böses will. SIE verfolgen ihre Pläne heimlich.  

  1. SIE stecken hinter verschiedenen unaufgeklärten Verbrechen, Katastrophen oder Missgeschicken, die UNS angeblich zugestoßen sind.  
  1. Damit wollen SIE UNS unterdrücken, versklaven oder vernichten, oder unsere höchsten und heiligsten Ziele sabotieren. 
  1. Aus den Punkten zwei und drei lässt sich eine komplettes Bild IHRES Handelns erschließen.
  1. Es wird Zeit, dass WIR uns mit allen Mitteln zu Wehr setzen.

(Quelle: https://scilogs.spektrum.de/)
 
Im letzten Punkt zeigt sich eine der Gefahren, die aus dieser Art zu Denken entstehen.So erzeugen Verschwörungsmythen eine politische Endzeiterwartung und eine Stimmung des “Jetzt oder nie”. Dies wirkt nicht zuletzt mobilisierend und legitimiert so gut wie jedes eingesetze Mittel. 
 
Dass Verschwörungserzählungen immer mit Vernichtungsfantasien einhergehen, scheint im deutschen Kollektivbewusstsein noch nicht angekommen zu sein.
Denn die Gewaltausübung ist, wie oben schon anskizziert, die logische Konsequenz von Verschwörungsideologien. Die Bedrohungen, um die es in der Verschwörung geht, werden immer bedrohlicher und wachsen stetig in ihrem imaginierten Einfluss. Das verschwörungsideologische Denken lässt keine anderen Erklärungen und Denkweisen als diese zu, die in dem verschwörungsideologischen Millieu vorhanden sind. Es entsteht eine Spirale, die das Denken radikalisiert. Irgendwann wird die Bedrohung als so real imaginiert, dass jedes Mittel recht wird, um gegen das ultimative Böse vorzugehen. Die Gegner*innen, also die nicht Verschwörungsgläubigen, werden dämonisiert. Auch dies legitimiert den Einsatz von Gewalt. Die Außenwelt hat sich im Denken der Verschwörungsgläunigen gegen sie verschworen und demnach gilt es diese Außenwelt zu vernichten.
 
 
Blick auf Duisburg
 
Wenn wir nun auf die Szene hier in Duisburg blicken, sehen wir zwar eine stark geschrumpfte Gruppe von Verschwörungsgläubigen auf den Straßen – aber eine radikalisierte und eingeschworene Gemeinschaft.
 
“Fühlt euch alle beklatscht und wert geschätzt!” – Screenshot vom 25.01.2022
Diese zeigt sich unter anderem im Netz und ist inzwischen in ihrer Gesamtheit als extrem rechts und teilweise gewaltbereit einzustufen. Vernetzungen nach Oberhausen, Essen, Krefeld, Düsseldorf und in andere Städte sind etabliert und die Radikalisierung in den Gruppen verlief teilweise erschreckend schnell. Die dort etablierten Verschwörungserzählungen und -ideologien sind gefährlich, menschenfeindlich und antisemitisch. Und das unabhängig von den bekannten Neonazis, Faschist*innen und Rassist*innen, die sich nichtsdestotrotz immernoch gelegentlich dort blicken lassen.
 
Volksverhetzende antisemitische Äußerungen im Chat – Screenshot vom 24.02.2022
Um den politischen Umgang mit der Corona-Krise geht es inzwischen den wenigsten, wie wir vor einiger Zeit schon auf Twitter dokumentiert haben. Momentan geht es viel um den Krieg in der Ukraine: Angeblich befreie Putin die Ukraine vom “Deep State”. Oder wie ein Chatteilnehmer der Telegram Gruppe von “Duisburg vereint für die Freiheit” es freudig ausdrückt: “Putin jagt das Demokratengesindel”. Der Einmarsch in der Ukraine wird als Beginn einer “Europa-Tour” verharmlost.
 
“Ist doch nett diese Europa-Tour” – Screenshot vom 1.3.2022
 
Immer mehr geben inzwischen auch offen zu, was viele Beobachter*innen längst wussten: es ging ihnen von Anfang an “ums große Ganze”, gegen die “NWO” (eine antisemitische Verschwörungserzählung) und gegen die pluralistische Gesellschaft  als Ganzes. Darüber hinaus werden auch neue Themen gesucht, um den Bewegungsmoment aufrecht zu halten. Was sich dort herausgebildet hat und sich weiter formiert, unterscheidet sich kaum noch von “Pegida NRW”. 
 
 
Angesichts dieser Entwicklung ist es frustrierend und erschreckend, wie wenig Widerspruch es aus der Duisburger Zivilgesellschaft gab und leider immer noch gibt. 
Diese müsste sich zu einer Gesellschaft der Vielen bekennen und dem verbreiteten Rassismus, Antisemitismus und der Wissenschafts- und Demokratiefeindlichkeit eine Absage erteilen. Aber leider müssen wir anscheinend, wie so oft, alles selber machen. Doch auch die radikale Linke tut sich teilweise schwer, klar Stellung zu beziehen. Sei es, weil teilweise selbst antisemitische und verschwörungsgläubige Denkmuster geteilt werden, sei es weil wenig Interesse daran besteht, eine “bürgerliche Demokratie” zu verteidigen.
 
Doch wir müssen uns klar machen, dass es bei den Kampf gegen Verschwörungserzählungen nicht um das Bewahren eines Status Quo geht. Verschwörungsideologie steht einer befreiten Gesellschaft und unseren Utopien von Solidarität und Emanzipation nicht nur im Weg, sondern diametral entgegen. Als Antifaschist*innen und emanzipatorische Linke sehen wir uns deshalb mit einer doppelten Aufgabe konfrontiert: Wir müssen die menschenfeindliche Ideologie bekämpfen sowie das menschenfeindliche System, in dem sie ihren Ursprung hat. Unser antifaschistischer Abwehrkampf gegen Corona-Leugner*innen und Impfverweiger*innen muss Teil des Kampfes um eine solidarische, antiautoritäre und egalitäre Perspektive sein. Packen wir es an!
 
Antifa bleibt Recherche – und Handarbeit!